Und die Sexualität?

Contactimprovisation und Sexualität von Jörg Christoffel,
Tübingen 3/2000

Da rollen eine Frau und ein Mann übereinander, die sich gar nicht kennen, heben sich gegenseitig mit ganzem Körpereinsatz und einem Gott-vertrauen, wie es sonst nur in guten Partnerschaften üblich ist, lehnen innig aneinander, halten sich oder verharren Körper an Körper - und dann soll das Ganze bitteschön nichts mit Sexualität zu tun haben?

Man sieht es gelegentlich hinter der Stirn der Zuschauer regelrecht arbeiten. Und wer könnte es einem Menschen auch verüben, wenn er beim ersten Eindruck prompt etwas in den falschen Hals bekommt? Das ist nun wahrlich ein heißes Eisen, an dem man sich wunderbar die Finger verbrennen kann. Zumindest scheint das so zu sein, denn selbst die ansonsten liberale, "für jeden Impuls offene", Contact Community tut sich mit diesem Thema ziemlich schwer:
Hat Contact Improvisation etwas mit Sexualität zu tun? Wie heikel die Frage ist, zeigt sich schon daran, daß sie kaum jemals innerhalb der CI Gemeinde gestellt wird. Die Frage nach der Sexualität wird ausgeklammert, ja beinahe tabuisiert. Teilweise mag das an den Wurzeln der CI in den reichlich prüden USA liegen. Zwar kann man die Form der CI durchaus als Erbe der studentischen Protestbewegung aus den siebziger Jahren sehen, aber gerade weil Contact mit so vielen (Anstands-)Regeln der amerikanischen Gesellschaft brach, war es vielleicht wichtig, sich diese heikelste aller Fragen nicht allzu sehr auf die Fahnen zu schreiben. Gestellt wird sie trotzdem, denn: Es ist die typische Frage eines Contact Zuschauers, der sich zunächst nicht vorstellen kann, wie da zwei oder mehr erwachsene Menschen im engsten Körperkontakt tanzen.

Also, wie ist das nun mit dem Sex?
Zunächst einmal: Auch die Contact Improvisation hat Regeln. So sehr sich diese Tanzform als Projektionsfläche für allerlei Vermutungen und Phantasien der Zu-schauer anbieten mag, der Körperkontakt zwischen den TänzerInnen hat eine andere Motivation: Er dient der Verständigung zwischen den Tanzenden. Und er muß bestimmten Spielregeln gehorchen, damit die Kommunikation klappt. Sexualität stört dabei. Sie würde die Wahrnehmung im Tanz zu sehr verengen, würde zu einer Art Tunnel-vision der Tanzenden führen und damit den Fluß der Improvisation beenden. Sexualität hat ein Ziel. Sie will zu einem bestimmten Ergebnis kommen. Contact Improvisation dagegen will nichts erreichen. Sie findet im Jetzt statt und kennt keine Planung, keine Absichten und kein Wollen. Sie dient auch keinem Zweck und schon gar keinem biologischen.
Woher kommt also die Vermischung der beiden Ebenen? Es mag arrogant klingen, ist aber nicht so gemeint, wenn man sagt, daß die vermutete Verbindung aus Sexualität und Contact Improvisation haupsächlich in der mangelnden Erfahrung der Zuschauer begründet liegt. Mit hoher Wahrscheinlichkeit - und zwar gleichgültig, ob es um ein amerikanisches oder ein deutsches Publikum geht - kennen die Zuschauer einer Contact Performance körperliche Berührungen aus vier gesellschaftlich "erlaubten" Bereichen: aus der Partnerschaft, aus dem Umgang mit Kindern, alten Menschen und Tieren sowie aus Pflege- bzw.- Berührungsberufen. Das ist nicht zynisch gemeint, sondern beschreibt nur Tatsachen. Berührung wird tabuisiert, weil Berührungen im Normalfall eine Absicht unterstellt wird. Und die Absicht ist es, die eigentlich durch die gesellschaftlichen Regeln sanktioniert wird, weil die Absicht hinter einer Berührung sehr wohl die Intimsphäre und Integrität einer Person verletzen kann.

Alito Alessis Worte am Beginn einer Sitzung in Körperarbeit (Body Work) bleiben mir deshalb unvergeßlich: "Before you start to touch, consider the intention of your movement." Es geht für jede(n) TänzerIn darum, selbst Klarheit darüber zu gewinnen, was eigentlich der Antrieb dazu ist, einen anderen Menschen, mit dem einen sonst nichts verbindet, im Tanz derart eng zu berühren. Natürlich bezieht Contact Improvisation einen Teil ihrer Faszination just aus diesem Körperkontakt. Berührung ist spannend. Sie ist eine echte Alternative zur Wortlastigkeit unserer Zeit. Sie ist kreativ, und sie durchbricht Konventionen. Sie erlaubt Verständigung und Spaß, wo beide sonst vielleicht nicht möglich wären. Und sie ist vor allem schnell genug, um selbst in den Zehnteln einer Sekunde noch für Koordination zu sorgen, wenn zwei Körper gemeinsam eine schwungvolle, improvisierte Bewegung beginnen, die dem ungeübten Zuschauer sogar gefährlich anmutet. Es wäre darüberhinaus scheinheilig, so zu tun, als hätte die Berührung im Contact Tanzen nichts Tröstliches.

Vor allem am Anfang einer "Laufbahn" als CI TänzerIn spielt diese (von den Spielregeln vor Komplikationen weitgehend geschützte) "Berührungsoase" eine große Rolle. Hier wird ein Durst nach Wärme gestillt, den die Kälte unserer Ellenbogengesellschaft aus "lauter erfolgreichen Individuen" zuvor selbst verursacht hat. Im Laufe der Jahre verliert diese Motivation jedoch an Gewicht. Irgendwann ist der Hunger gestillt, und dann zeigt sich, ob die Motivation des einzelnen noch andere Ebenen hat. Auf die Dauer ist es der Drang zur Bewegung, zur freien Improvisation, zum Spiel und zur Fähigkeit, sich selbst auszu-drücken, welche die Antwort auf die eine Frage liefern: Warum tanzen wir eigentlich Contact Improvisation?

Zur großen Enttäuschung all derer, die da mehr vermutet hatten: Die Tanzfläche ist nicht der Ort für Sexualität, auch nicht in der Contact Improvisation. Dabei geht es gar nicht um Sitte und Moral, sondern um die genannte Freiheit von Komplikationen. Wie könnte man sich beispielweise während einer Contact Jam auf ein Dutzend intensive Tänze mit teilweise unbekannten Menschen "einlassen"? Das geht nur dank der Spielregel, daß die Nähe und Berührung nur für die Dauer des Tanzes gilt! Andernfalls würden sich Jams und Workshops in kürzester Zeit in Beziehungsdramen auflösen. Das Gegenteil ist der Fall: Contact Improvisation ist einer der wenigen Orte, an denen Freiheit, Bewegung, Spiel und Berührung fernab aller sonstigen Regeln und Hindernisse möglich sind.

Aber auch am schönsten, buntesten Korallenriff gibt es Haifische: Es soll hier nicht verschwiegen werden, daß CI auch Men-schen anzieht, die weniger den Tanz suchen, sondern die körperliche Nähe und das durchaus aus sexuellen Motiven. In den rund sechs Jahren intensiven CI Tanzens hat der Autor das zweimal mittelbar erlebt. In beiden Fällen folgte das Korrektiv sehr schnell. Im ersten Fall durch Eingreifen des Kursleiters, im zweiten durch Thematisieren seitens der Gruppe. Das Ergebnis war in beiden Fällen das Gleiche: Die Grenzüberschreitung wurde abgestellt, auf eine ebenso direkte wie wirksame Art. Der Begriff "Haifisch" entstammt aus dem Watsu, einer Diszlipin aus den heilenden Körperkünsten, die in viel höherem Maße als CI dem Mißverständnis der Einladung zur Sexualität - oder genauer gesagt zur Grenzüberschreitung - ausgesetzt ist.

Im Kontrast zum Hai, der Contact mißbraucht, kann man CI TänzerInnen als Delphine beschreiben, deren sprichwörtliche Neigung zum Spiel diesen Vergleich ohnehin nahelegt. Noch in einer weiteren Hinsicht paßt die Analogie: Kein Hai hat eine Chance gegen eine Gruppe von ent-schlossenen Delphinen. Vor allem "reife", d.h. erfahrene CI Gruppen schützen sich schnell und entschieden gegen Haie. Je nach Urteil der Gruppe und Situation kann dem Hai dabei theoretisch sogar eine Brücke gebaut werden, sein Verhalten zu ändern und etwas Neues zu lernen: absichtslose Nähe und ebensolches Vertrauen. Geht der Hai darauf nicht ein, hat er in der Gruppe nichts mehr verloren. Man kann nur jede CI TänzerIn ermuntern, an diesem Punkt keinen Kompromiß einzugehen. Kennen Sie den dummen Spruch "Kaum hat man das Ganze verstanden, schon wird's kompliziert?"

Hoffentlich, denn nach all dem bis hierher Gesagten, folgt nun prompt die Radio-Eriwan Einschränkung "im Prinzip nein, aber...": Da wir hier über Menschen reden und Sexualität ein fester Bestandteil des menschlichen Wesens ist, hat jede Form des Tanzes natürlich auch etwas mit Sexualität zu tun. Der Zugang zum Tanz geschieht über den Körper und damit ist die Sexualität mit im Spiel, auch bei der CI. Allerdings in einer anderen Form als der Zuschauer sich das vielleicht vorstellt. Sexualität wird auf der Tanzfläche nicht ausgelebt. Wenn sie doch auftaucht, gehört es zum Tanz, eine Ausdrucksform dafür zu finden, die der Situation angemessen ist. Es geht um einen Weg zwischen den beiden Irrwegen Verdrängung und Ausleben. Wer sich für weitere Gedanken zum Thema interessiert (und gut Englisch kann), wird bei der in den USA erscheinenden Zeitschrift "Contact Quarterly" fündig, die eine ihrer zurückliegenden Ausgaben der Auseinandersetzung mit dem Thema Sexualität und Contact Tanz gewidmet hat.


 


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